Bindungstraumata entstehen durch fehlende oder schädigende Beziehungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen in der Kindheit, die die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten eines Kindes übersteigen. Für eine gesunde Entwicklung benötigt ein Kind eine ausreichend verlässliche und zugewandte Vertrauensbeziehung zu mindestens einer erwachsenen Person. Diese besondere Beziehung wird Bindung genannt.
Wenn ein Kind z.B. mit seiner Angst immer wieder alleingelassen wird, dann fehlt ihm die Erfahrung durch die Bindungsperson: ich werde gesehen, ernst genommen und mir wird geholfen. Es bleibt überfordert, hilflos, ohnmächtig seiner Angst ausgeliefert. Diese fehlende Beruhigungs-Erfahrung führt dazu, dass das Kind später als Erwachsener mit Angst nicht zurechtkommt, sich nicht selbst beruhigen kann. Noch fataler ist die Lage, wenn die Angst des Kindes durch die Bindungsperson selbst ausgelöst wird. Da das Kind abhängig von dieser Person ist, kann meistens keine normale Traumareaktion, wie Kampf, Flucht oder schützendes Erstarren geschehen, sondern es greift die Überlebensstrategie der Spaltung der Bindungsperson in Gut und Böse. Gut und Böse wird im Gehirn getrennt abgespeichert, damit das Kind nicht verrückt wird und es weiter mit der „lieben“ Bindungsperson leben kann.
Als Kind sind wir abhängig von Erwachsenen, wir brauchen Kontakt und Bindung, das heißt, wenn Erwachsene nicht ausreichend in der Lage sind, sich in das Kind einzufühlen, es zu trösten und Halt zu geben, Freude mit dem Kind zu teilen, präsent zu sein, dann erscheint dies dem Kind zunächst normal und es kann nur den Schluss daraus ziehen: es liegt an mir. Das Kind entwickelt Lösungen, die auf seine Kosten gehen: es passt sich zu sehr an, verbiegt sich, um die Bezugsperson nicht ganz zu verlieren, um vielleicht irgendwann doch noch die Liebe und Anerkennung zu bekommen, nach der es sich sehnt. Neben den Gefühlen von Schuld, Scham und Wertlosigkeit, die sich dann im Kind einnisten, lernt es nicht ausreichend, seine Emotionen zu regulieren, da es diese Regulation von den Eltern nicht erfährt (z.B. wenn es traurig ist, nicht getröstet wird).
Wir lernen als Kind also manchmal Bewältigungsstrategien, die uns als Kind geholfen haben, unter widrigen Bedingungen zu überleben. Als Erwachsene verhindern diese alten und vertrauten Strategien aber gerade das realisieren von gelingenden Paarbeziehungen.
Wenn wir uns z.B. als Kind so stark anpassen mussten, dass eigene Gefühle und Bedürfnisse keinen Platz mehr hatten, dann wiederholen wir das als Erwachsene, weil wir unbewusst immer noch glauben: ich werde nur geliebt, wenn ich mich ganz an den Bedürfnissen des anderen ausrichte, ansonsten werde ich bestraft oder verlassen. Bindungstraumatisierte Menschen lernen nicht, sich auf ein Gegenüber zu beziehen, da sie selbst als Kind nicht als einzigartiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen wahrgenommen wurden. Daher sind sie als Erwachsene auch in einer Beziehung meist sehr mit sich selbst beschäftigt.
Schwierige Bindungserfahrungen und -traumata kommen zum Vorschein, wenn wir versuchen, als Erwachsene nahe Beziehungen einzugehen und zu erhalten. Manchmal werden verbindliche Beziehungen rigoros abgelehnt oder gemieden. Oder Beziehungen werden zunächst eingegangen, können aber nicht aufrechterhalten werden; sogenannte On-Off-Beziehungen sind eine Variante. Oder heftige, immer wiederkehrende Streitereien drohen, eine Beziehung zu zerstören.
Oft sind die Angst und die zugrundeliegenden Traumata, die zu diesen frustrierenden Beziehungserfahrungen führen, gar nicht bewusst oder sie werden nicht mit den Schwierigkeiten in der Paarbeziehung in Zusammenhang gebracht.
Bindungstraumata aus der Kindheit führen als Erwachsene zu einer „traumazentrierten Bindungsstörung“ (nach Katharina Klees). Diese zeigt die gleichen Erscheinungsformen wie eine Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Kennzeichnend sind nach einer meist sehr idealisierten Anfangsphase zunehmende Enttäuschungen, worauf die Partner meist erbittert und eskalierend streiten, oder es wird sehr viel geschwiegen, vor allem über Gefühle, und aus dem Weg gegangen. Die eigenen Emotionen können nicht reguliert werden. Beide Partnerinnen geraten abwechselnd oder gleichzeitig in eine innere Notsituation, in der sich die Not des traumatisierten Kindes wiederholt, dies bleibt dem Bewusstsein aber meist verschlossen. Anstatt dessen wird der Partner/ die Partnerin als Problem, als Ursache für die eigene Not wahrgenommen und entsprechend behandelt. Eine wechselnde Verteilung der Opfer- und Täterrolle beginnt. Gleichzeitig soll der Partner/die Partnerin uns endlich von der negativen Selbstwahrnehmung befreien und uns das geben, was wir als Kind nicht bekommen haben. Was aber selbst beim besten Willen nicht möglich ist, denn wir sind jetzt kein Kind mehr, und der/die Partnerin ist weder Vater noch Mutter. Der/die andere kann uns nicht retten. Ein Drama in Endlosschleife.
Streiten jedoch löst keine Probleme, sondern vertieft die vorhandenen Wunden oder lässt sie immer wieder aufreißen.
Und es ist keine Lösung, wieder in den tollen idealisierten Anfangszustand der Beziehung kommen zu wollen, weil dies ein beträchtliches Maß an Selbstunterdrückung erfordert. Eine Anstrengung, die immer schlechter gelingt, weil sie mit der Zeit fühlbarer wird.
Der Weg der Heilung besteht darin, die innere Verwundung aus der Kindheit zu erkennen, und nun selbst die Verantwortung zu übernehmen, anstatt den Partner zu bekämpfen und ihm Fehler nachzuweisen und ihn gleichzeitig für die eigene Rettung verantwortlich zu machen. Und zu lernen, uns in den anderen einzufühlen und uns gleichzeitig weiter selbst wahrzunehmen, zu verstehen, dass Differenzen zwischen Partner*innen als Erwachsene nicht mehr lebensbedrohlich sind sondern eine gesunde Kompromissbildung oder eine andere Lösung möglich ist. Jeder hat seine eigenen Verletzungen erlebt und eigene Überlebenstrategien entwickelt. Wenn wir das einbeziehen können anstatt das Verhalten des Partners nur auf uns selbst zu beziehen, dann beginnt die Freiheit der echten Begegnung, zwei Menschen, die sich mit Sonn- und Schattenseiten kennen und zu sich selber stehen können! Auch als Erwachsene ist im psychotherapeutischen Prozess ein inneres Wachstum in Richtung innerer Selbständigkeit möglich, in dem wir zunehmend unseren eigenen Gestaltungsspielraum wahrnehmen.
Paartherapien, die den Traumahintergrund eines Paares nicht einbeziehen, zimmern gewissermaßen an einem Rettungsboot auf hoher See herum, anstatt die Ursache (Traumata) der extremen Wellenbildung (hochschießende Emotionen) in den Blick zu nehmen und für ruhigere Gewässer zu sorgen.
Auch in einer Einzeltherapie können Menschen in ihrer Beziehungsfähigkeit unterstützt werden und an der Heilung und Integration ihrer Bindungstraumata arbeiten. Wenn ein Paar schon im Drama feststeckt ist es sicher empfehlenswert, dass beide zu einer Paartherapie kommen. Wenn eine Person dazu aber nicht bereit ist, macht es auch Sinn, wenn nur die andere kommt.